Surat Shabd
Yoga
Die beiden Dinge, die sich bei einer Untersuchung
der allgemeinen Yogaformen, wie sie nach Patanjali entwickelt wurden, zeigen, sind: 1. daß
sich die Seele über das Körperbewußtsein erheben
kann, wenn die Mittel gegeben sind, womit sie ihre Energien im Brennpunkt
sammelt, ohne zu der mühseligen Kontrolle der „pranas“
Zuflucht nehmen zu müssen; und 2. daß vollkommene
spirituelle Verwirklichung oder echter „samadhi“
nicht nur eine Sache des Überschreitens des Physischen ist (obgleich dies als
erster Schritt notwendig ist), sondern das Ende einer komplizierten inneren
Reise, bei der es viele Zwischenstationen gibt, deren Erreichen unter gewissen
Umständen irrtümlicherweise für das letzte Ziel gehalten werden kann, was jeden
weiteren Fortschritt ausschließt. Das Problem, das sich für den wahren Sucher
angesichts einer solchen Situation erhebt, ist, andere Hilfsmittel zu entdecken
als die der „pranas“, des „jnana“
oder der Hingabe (bhakti) an einen „Ishtdeva“. Es gilt nicht nur, die Geistesströme von der
gegenwärtigen physischen Gebundenheit zu befreien, sondern auch die Seele in
die Lage zu setzen, unbehindert nach oben und von einer spirituellen Ebene zur
anderen zu gelangen, bis sie alle Bereiche des Relativen, von „naam" und „rup“, „kal“ und „mahakal“, völlig
übersteigt und somit ihr Ziel erreicht: die Einswerdung
mit dem Namenlosen und Formlosen.
Der Tonstrom
Im Zusammenhang mit diesem Problem erhält der Surat
Shabd Yoga oder der Yoga des himmlischen
Tonstromes seine einmalige Bedeutung. Diejenigen, welche diesen Yoga gemeistert
haben, lehren, daß das Absolute, obgleich in seinem
ursprünglichen Zustand frei von allen Attributen, sich selbst in die Form projiziert und zwei erste Attribute annimmt:
Licht und Ton. Es ist kein bloßer Zufall, daß in den
Offenbarungsschriften aller bedeutenden Religionen häufige Hinweise auf das Wort zu finden sind, das eine
Hauptstellung in ihren Lehren innehat. So lesen wir im Evangelium:
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei
Gott,
und Gott war das Wort.
Joh. 1, 1
In den alten indischen Schriften lesen wir
wiederholt von „Aum“, dem heiligen Wort, das die drei
Bereiche „bhur“, „bhuva“
und „swah“ (das Physische, das Astrale und das
Kausale) durchdringt. Guru Nanak sagte:
Himmel und Erde bestehen nur aus Shabd (dem Wort);
Aus Shabd allein
ward das Licht geboren;
einzig aus Shabd entstand
die ganze Schöpfung;
Shabd ist des
Wesens Kern in allem.
Shabd ist die
richtungweisende, wirkende Kraft Gottes,
der Ursprung aller Schöpfung.
Prabhati
Die Moslem
Sufis erklären:
Die Schöpfung kam durch Saut (Ton oder Wort)
ins Dasein, und aus Saut ging alles
Licht hervor.
Shamas-i- Tabrez
Der Große Name ist das Wesen und das Leben aller
Namen und Formen;
seine offenbarte Form erhält die Schöpfung.
Er ist das große Meer, von dem wir nur die Wellen sind.
Der allein kann dies fassen, der unsere Wissenschaft
gemeistert hat.
Abdul Razaq
Kashi
Moses hörte die Gebote Gottes
inmitten von Donner und Feuer. Im Gedankengut von Zoroaster und im Tao gibt
es ebenfalls Hinweise auf das „Schöpferische Wort“, das „Göttliche Licht“ und
auf das „Wortlose Wort“: das verschwiegene Wort.
Einige gelehrte Schüler und Theologen der späteren
Zeiten haben zufolge ihrer eigenen begrenzten Erfahrung diese Schilderungen als
bildliche Hinweise auf intuitive und intellektuelle Erleuchtung dargelegt. Aber
bei näherer Prüfung erweist sich eine solche Darstellung als unhaltbar. Den
Begriffen „Wort“ und „Logos“, wie sie die Griechen, Hebräer und Europäer
angewandt haben, mag die Bedeutung „Ursache“ oder „Ordnung“ aufgezwungen worden
sein, und „Licht“ mag auf diese Weise nichts anderes besagen als „mentale
Erleuchtung“, aber ihre Entsprechungen in der religiösen Literatur — nad, udgit, akash-bani, shabd, naam, saut, bang-i-illahi, nida-i-asmani, sarosha, tao, und jyoti, prakash, tajalli, nur-i-yazdani usw. —
lassen es nicht zu, ein solches Zerrbild für ihre ursprüngliche mystische
Bedeutung zu dulden. Überdies haben einige Seher ihre wirkliche Bedeutung auf
eine Weise dargelegt, daß es keinen Spielraum für
eine Zweideutigkeit oder auch für einen Zweifel geben kann, daß
das, was die Begriffe enthalten, keine bildliche Schilderung von einer
gewöhnlichen mentalen Erfahrung ist, sondern eine transzendente innere
Wahrnehmung und Erkenntnis. So finden wir in der Offenbarung:
Seine Augen waren wie eine Feuerflamme...
Seine Stimme wie großes Wasserrauschen
Sein Angesicht leuchtete wie die helle Sonne
Und ich hörte eine Stimme vom Himmel als eines
großen Wassers und wie eine Stimme eines großen
Donners; und die Stimme, die ich hörte, war als
der Harfenspieler, die auf ihren Harfen spielen.
Und aus der Nad Bind Upanishade wissen wir:
Zuerst gleichen die brausenden Töne jenen der
Meereswogen, dem Fallen des Regens, dem Rauschen
des Baches, und dann wird Bheri gehört,
untermischt
mit den Tönen der Glocke und der Muschel.
Der Prophet
Mohammed hörte eine himmlische Musik, die allmählich die Gestalt von Gabriel annahm und sich in Worte formte.
Und Baha’ U’llah
erklärte:
Myriaden von mystischen Zungen finden Ausdruck
in einer Sprache, und Myriaden Seiner verborgenen Mysterien werden in einer
einzigen Melodie enthüllt; aber leider gibt es kein Ohr, das ihr lauscht, kein
Herz, das sie versteht.
Blind sind deine Augen, daß du mögest schauen Meine Schönheit; verstopfe deine Ohren, damit du die
süße Melodie Meiner Stimme hören kannst.
Diese Hinweise auf Licht und Ton sind nach den
Meistern des „Surat Shabd Yoga“ nicht bildlich,
sondern buchstäblich zu nehmen; und sie beziehen sich nicht auf die äußere
Beleuchtung oder die Töne dieser Welt, sondern auf die inneren transzendenten
Welten. Dieser transzendente Ton und dieses transzendente Licht, lehren sie,
sind die ersten Offenbarungen Gottes, wenn er sich in die Schöpfung hineinprojiziert.
In seinem namenlosen Zustand ist er weder Licht noch Dunkelheit, weder Ton noch
Stille; aber wenn er Form und Gestalt annimmt, erheben sich Licht und Ton als
seine ersten Attribute.
Diese Geisteskraft — Wort, Naam, Kalma —
oder der waltende Gott ist für alles, was ist, verantwortlich. Doch die
physischen Universen, die wir kennen, sind nicht die einzigen, die sie
hervorgebracht hat. Sie hat Myriaden Regionen und Myriaden Schöpfungen ins
Leben gerufen. In der Tat ist das Ganze eine großartige, unergründliche,
grenzenlose Gestaltung, worin der positive Pol (Sach Khand oder Sat Lok) durch eine
Ebene aus reinem, unvermischtem Geist gebildet ist, während der negative (Pind) aus grober, physischer Materie besteht, mit der wir
in dieser Welt vertraut sind. Dazwischen liegen unzählige Regionen, welche
diejenigen, die von einem Ende zum anderen gelangt sind, oftmals in drei
unterschiedliche Ebenen aufteilen, entsprechend dem besonderen Ausgleich von
positiv-spirituellen und negativ-materiellen Kräften.
Die Meister lehren, daß
das eine dauerhafte Prinzip, das alle diese Ebenen aus reinem Geist bis zur
groben Materie verbindet, das Prinzip des flammenden Tones oder der tönenden
Flamme ist. Das Wort oder Shabd nimmt während seines
Abstiegs eine unterschiedliche Dichtigkeit von spirituell-materiellen Kräften
an. Die Mystiker sprechen von purpurnem Licht, von Mittagslicht
oder von dem der untergehenden Sonne, und sie beziehen sich auf den Ton von
Flöten, Harfen, Violinen, Muschelhörnern, Donner, Glocken, fließendem Wasser
usw.; aber obgleich er sich auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich
offenbart, bleibt er dennoch in sich selbst unverändert.
Ein Strom, der auf den schneeigen Gipfeln gewaltiger
Berge entspringt, erfährt während seines Laufs zum Meer viele Veränderungen:
die der Richtung, der Form, der Bewegung und Erscheinung, aber sein Wasser
bleibt dasselbe.
Könnte man diesen hörbaren Lebensstrom in sich
selbst entdecken, könnte man seine untersten Enden finden, so könnte man ihn
als einen Pfad benutzen, der unweigerlich zu seiner Quelle führt. Die Ströme
mögen an bestimmten Stellen in Schluchten und Stromschnellen hineinkommen, aber
sie sind nichtsdestoweniger der sicherste Weg für die Aufwärtsreise. Mag eine
Bergkette auch noch so unwegsam sein, so schneiden die Wasser doch einen Pfad
und bahnen einen Durchgang; und einer, der sich ihre Führung zunutze macht,
findet immer den Weg. Und seit dieses „Naam“ oder der
Wort-Strom aus „Anaam“ oder dem Wortlosen
hervorgegangen ist, wird der, welcher daran festhält, in jedem Fall zum
Ausgangspunkt gelangen, wenn er eine Ebene variierenden Relativität nach der
anderen überschreitet, bis er am Ursprung von Name und Form ankommt und sich
mit dem verschmelzt, was weder Name noch Form hat.
KIRPAL SINGH
Sawan Ashram, Delhi
(aus:
Die Krone des Lebens)