Der Meister spricht
II. Herberge des Wahns
Sant Kirpal Singh
Origo Verlag Bern/Schweiz 1980
ISBN
3-282-00112-6
Dem
Allmächtigen Gott gewidmet
der durch alle Meister wirkt, die gekommen sind
und Baba Sawan Singh Ji Maharaj
zu dessen Lotosfüßen der Autor
das Heilige Naam – das Wort –
aufnahm
1. Kapitel (Auszug)
Die wahre Wirklichkeit
Die erwachten Seelen sehen die Welt in ihren wahren
Farben. Sie sehen von der Ebene des Geistes, der der Welt innewohnt. Aber wie
ist es bei uns? Wir sehen das Oberste zuunterst. Weshalb? Wir sind noch nicht
zur Wirklichkeit erwacht. Die Wirklichkeit in uns ist noch auf den Körper
beschränkt und in ihm gefangen. Wir sind nicht fähig gewesen, Seele und Körper
zu unterscheiden. Demzufolge blicken wir nur von der physischen Ebene auf die
Welt. Dies ist die große Kluft zwischen den beiden Arten, die Welt zu sehen.
Wir haben die physische Form für etwas Wirkliches gehalten, und so scheint auch
die physische Welt ringsumher wirklich zu sein. Die Schriften lassen uns jedoch
wissen, dass dem nicht so ist. Mit „Wirklichkeit“ meinen sie etwas
Ewiges, Unwandelbares und Beständiges (Sat).
Die Weltklugen dagegen sagen:
Wenn es irgendein Paradies auf Erden gibt, dann ist
es hier. Oh, es ist hier und nirgendwo sonst.
Im allgemeinen erklären sie uns: „Süß sind die
Freuden dieser Welt; wer weiß, was im Jenseits ist?“ Babar, der erste
Mogul-Kaiser von Indien, eröffnete seine Trinkgelage mit seinem
Lieblingsausspruch: „O Babar, trinke den Becher des Lebens bis zur Neige!
Wer weiß, wie lange wir noch sind.“ Dies ist eine epikureische
Lebensanschauung – eßt, trinkt und seid fröhlich, denn morgen können wir
tot sein. Es ist also die eine Art, das Leben zu verstehen. Die andere ist den
Weisen und Sehern eigen. Sie sprechen nicht von der Ebene des Intellekts. Sie
halten keine philosophischen Vorträge, sind jedoch sehr gute Beobachter. Sie
sprechen von der Ebene des gesunden Menschenverstandes. Sie sehen die Welt in
ständig wechselnden Farben dahintreiben und blicken auf unsere erbärmliche
Lage; aus der Qual ihres Herzens rufen sie uns mit lauter Stimme zu, da halt zu
machen, wo wir stehen.
Der Mensch hat, gleich einer Münze, zwei Seiten. Er
ist eine verkörperte Seele. Die Seele ist sein wahres Selbst, nicht der Körper,
obwohl er diesen besitzt. Der Körper ist das kostbare Eigentum der menschlichen
Seele, welche ihn bewohnt. Er ist der Tempel Gottes, der einen erhabenen Zweck
zu erfüllen hat. Und was für ein Zweck ist das? Es gilt das Rätsel des Lebens
zu lösen – des Lebensprinzips, das für die Erschaffung des Universums
verantwortlich ist. Man kann diesen Lebensimpuls sicher erkennen, wenn man in
sich danach forscht. Wie ist das möglich? Einer, der dieses Rätsel selbst gelöst
hat, kann uns helfen, es gleichfalls zu tun.
Es ist eine Sache allgemeiner Beobachtung, dass das
menschliche Leben nicht glatt verläuft. Wir sind das Spielzeug dessen, was wir
Zufall nennen. Täglich erfahren wir verschiedene Wechselfälle des Lebens: wir
drehen uns immer auf dem Rad des Lebens. Es gibt keine einzige Seele, die mit
ihrem Los zufrieden wäre. Kabir sagt uns: „Im Körper ist keiner
glücklich; ich habe nicht einen gesehen, der wirklich glücklich war.“ Da
wir uns selbst mit dem Körper, der sich ständig verändert, identifiziert haben,
können wir nicht wirklich glücklich sein. Nanak sagt das gleiche: „O
Nanak, die ganze Welt plagt sich ab in Sorge und Leid!“ Das echte Glück
erwächst aus dem rechten Verstehen der wahren Werte des Lebens. Jeder ist auf
die eine oder andere Weise in Betrübnis. Einige leiden an physischen
Krankheiten, andere unter Armut und Bedürftigkeit, Knappheit und Mangel,
weitere infolge geistiger Besessenheit, Erinnerungen an früheren Schmerz und
Angst vor der Zukunft. Wenn der große Lehrer gefragt wurde, ob irgend jemand
glücklich sei, antwortete er: „Ja, einer, der einzig und allein dem
Dienst eines Heiligen hingegeben ist.“ Wir müssen sodann wissen, was den
Heiligen von anderen Menschen unterscheidet Er ist einer, der das Rätsel des Lebens
gelöst hat, denn er sieht von der Ebene der Seele auf die Welt. Er ist mit der
rechten Wahrnehmung begabt und darum immer glücklich; so auch jene, die in
seiner Gemeinschaft bleiben.
KIRPAL SINGH
Sawan
Ashram,
Inhaltsübersicht
Gedicht
Die wahre Wirklichkeit
Der Käfig der Seele
Der wahre Meister und seine Mission
Seid ihr für euer Schicksal erwacht?
Gurmukh und Manmukh
Herberge des Wahns
Wie man das Gemüt beherrscht
Ein Jahr liegt vor euch
Glossarium