Über die Demut

Rundschreiben Nr. 57

Des Meisters Botschaft vom 1. Juli 1967
zum Jahrestag der Geburt von Baba Sawan Singh Ji

 

Liebe Kinder des Lichts,

an diesem segenbringenden Jahrestag der Geburt von Hazoor Maharaj Baba Sawan Singh Ji sende ich jedem von euch meine herzlichsten Wünsche für euren Fortschritt auf dem spirituellen Pfad zurück zur Heimat unseres Vaters – durch den Natürlichen Yoga des Lichts, des Lebens und der Liebe – den Surat Shabd Yoga.

In den vergangenen Jahren habe ich in meinen Botschaften hauptsächlich über das Erheben über das Körperbewusstsein geschrieben, um von neuem geboren zu werden und das Sterben während des Lebens zu lernen. Dadurch wird man in die Lage gesetzt, in das Reich Gottes einzutreten, welches in uns liegt – so wie es alle Meister verkündet haben, die nun durch seine gütige Gnade zu uns gekommen sind. Es gibt viele Aspekte seines göttlichen Lebens, aber ich möchte jetzt nur die zwei wichtigsten herausgreifen, und das sind Demut und Einfachheit – jene zwei Eigenschaften, die wir zu dieser Stunde am nötigsten brauchen, und die, wenn wir sie uns aneignen, unser Leben in die rechte Richtung lenken und uns fähig machen, Vollkommenheit zu erlangen.

Von der Persönlichkeit aller Meister wie Jesus, Mahavira, Buddha, Kabir und Nanak usw. der alten Zeit und Ramakrishna, Hazoor Baba Sawan Singh Ji, Sadhu Vaswani und anderen der neueren Zeit ging dieser göttliche Glanz aus.

Der Mensch kennt so viele Dinge, aber sich selbst kennt er nicht; er hat so viele Hüllen in sich, die die Tiefen seines Herzens bedecken. Der Mensch lernt und verlernt sein ganzes Leben lang. Es ist klüger, ein Schüler zu bleiben, als ein Lehrer zu werden: ein Schüler des Mysteriums des Lebens.

Ein Gleichnis erzählt von einem Gottsucher, der nach dem Himmel forschte und überall umherwanderte, bis er sich unversehens an der Himmelstür befand. Der Türhüter fragte ihn: „Wer bist du?” und der Sucher antwortete: „Ein Lehrer”. Der Türhüter bat ihn, zu warten und ging hinein, um Bericht zu erstatten. Nach einer Weile kam er zurück und sagte, er könne ihn nicht einlassen, da es in der himmlischen Welt keinen Platz für Lehrer gäbe. Ihm wurde geheißen, zurückzugehen und den Staub der hohlen Worte, die ihm anhafteten, im Wasser des Schweigens abzuwaschen.

So viele Lehrer sind eitel, sie prahlen mit ihrem Wissen. Wie kann es im Himmel einen Platz für den geben, der in einer Welt von Eitelkeit lebt?

Nun saß er täglich im Schweigen, hörte auf die Worte der Heiligen und seine Selbsterkenntnis begann sich zu entwickeln. Er wurde demütig und betete darum, der Diener aller Menschen zu werden, der Einsamen und Niedrigen und der Tiere – ein Diener an Gottes Schöpfung. Da öffneten sich die Pforten des Himmels, er trat ein und erblickte des Meisters unvergleichlich schönes und reines Antlitz.

Alle Meister der Vergangenheit und Gegenwart sagen: „Das Reich Gottes ist für solche, die demütigen Herzens sind.” Bedauerlicherweise sind so viele von uns stolz und eitel, in ihr Ego vertieft, und blind für die Weisheit wandern wir von einer Dunkelheit in die andere.

Der Gott, der Millionen beherrscht, ist das Ego. Lasst die Liebe euer Herz regieren, beendet eure Wanderschaft – und was kann man tun, um das zu erreichen? – werdet demütig wie Staub und Asche. Die Welt ist voll des Stolzes auf Reichtum, Macht oder Wissen; wir sollten aber bescheiden sein und einfach und leer von allem Ich, so dass der Herr das mit uns tun kann, was Er will.

Ein Leben, das wert ist, gelebt zu werden, ist das Leben im Geiste. Sein Fundament ist die Demut. Wir sollten nur noch eine bloße Ziffer sein, und Gott sollte alles sein. „Lasst uns vollkommen werden, wie unser Vater im Himmel vollkommen ist.”

Die wirklich Demütigen sind die wirklich Glücklichen. Aus Mangel an Demut führen Männer und Frauen ein unerträgliches, elendes Leben. All dieses Elend kommt von innen. Es geht nicht um eine Veränderung unserer Verhältnisse, sondern um die Befreiung aus der Knechtschaft des ‚Ich’, des kleinen Ego, das uns tyrannisiert und uns der Glückseligkeit beraubt, die unser Erbgut ist als Kinder Gottes. Wir sitzen gleichsam in einem Käfig der Ichbezogenheit und ehe nicht dieses Gefängnis mit dem Schlüssel der Demut geöffnet wird, kann der Schwanenvogel Seele nicht frei werden, um in die Regionen des Glanzes und der Freude zu gelangen.

Der Weg zu wahrer Glückseligkeit ist der Weg der Demut und der Liebe. Der Demütige kennt keine Probleme. Er hat Gott zum Führer. Bedeutsam sind die Worte des Hirtenknaben, der in John Bunyans „Pilgrim’s Progress” singt:

„Wer unten ist, braucht keinen Sturz zu fürchten,
wer niedrig ist, hat keinen Stolz;
wer Demut übt, hat immer Gott zum Führer.

Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe,
sei es wenig oder viel.
Und flehe immer noch um mehr Zufriedenheit, o Herr,
denn solche rettest Du.”

Es heißt sehr richtig, wenn es keine Demut gäbe auf der Welt, würde jeder schon längst selbst seinem Leben ein Ende gemacht haben.

Wenn in der Seele das Licht der Demut aufdämmert, verschwindet das Dunkel der Selbstsucht und die Seele lebt nicht länger für sich, sondern für Gott. Die Seele verliert sich in Gott, lebt in Gott und geht in Ihm auf. Das ist die Alchemie der Demut. Sie verwandelt das Niedrigste in das Höchste. Der große chinesische Weise Lao Tse brachte diesen Gedanken auf sehr schöne Art zum Ausdruck:

„Wie wird das Meer zum König aller Flüsse und Ströme?
Weil es niedriger liegt als sie.”

Der heilige Augustinus sagte, der Weg zu Gott bestehe „erstens aus Demut, zweitens aus Demut und drittens aus Demut”. Wer stolz ist auf Reichtum, Wissen oder Macht, wird kaum einen Heiligen aufsuchen, wenn er nicht demütig geworden ist; und wenn er doch zu ihm findet und sich dabei überlegen vorkommt, er würde nicht auf den Heiligen hören. Ein Glas, das über einen Wasserhahn gehalten wird, bleibt leer, es sei denn, dass man es darunter hält. Was man weiß, das weiß man. So hört auf das, was ein anderer sagt. Vielleicht können wir etwas von ihm lernen.

Ja, die Zweige eines fruchtbeladenen Baumes beugen sich von alleine. Gleichwohl beugt sich der Mensch, der sich selbst verliert und Gott findet, vor allen und erweist allen von Herzen Ehre – weil er Gott überall und in jedem Menschen sieht. Das ist wahre Demut. Es ist keine erzwungene Erniedrigung. Ein demütiger Mensch lebt mit allen in Einklang. Er ist in den anderen und die anderen sind in ihm.

Es ist das falsche Ego-Selbst, was Disharmonie und Trennung verursacht. Ist die Täuschung des Ego einmal gebannt, spürt man, „ich bin nicht ein von den anderen getrenntes Wesen, sondern die anderen sind Teil des Einen – Gottes – des Meisters – und wir alle sind in den gleichen Dienst Gottes gestellt.

Jeder von uns ist auf seine Weise einmalig, und eine göttliche Absicht liegt dem Leben eines jeden zugrunde, der in die Welt kommt; keiner wurde grundlos geschaffen. Wir haben von jedem etwas zu lernen. Dies ist das Geheimnis der Demut.

Der wahrhaft Demütige vergleicht sich nicht mit anderen. Er weiß, dass keiner von uns vollkommen ist, wie fortgeschritten er auch sein mag. Keiner von uns ist von sich aus vollkommen. Der Demütige hält den einen nicht für besser als den anderen; er glaubt an das Göttliche in jedem einzelnen. Wenn einer meint und beansprucht, besser zu sein als andere, so ist er noch nicht vollkommen.

Nur wenn man seine Nichtigkeit erkennt, kommt Gott und erfüllt einen mit sich selbst. Wo der Mensch ist, ist Gott nicht und wo der Mensch nicht ist, da ist Gott! In das Herz eines selbstsüchtigen Menschen kann Gott nicht kommen. Wer von sich selbst erfüllt ist, glaubt, dass er über den anderen steht und setzt sich somit selbst Grenzen. Gott ist ohne Grenzen. Wie kann das Unbegrenzte in das Begrenzte kommen? Oh ihr, die ihr Gott sucht, seht zu, dass ihr euch nicht über andere erhebt. Gebt alles auf, was ihr seid und alles, was ihr habt, befreit euch von allem „selbst”, werft das Ego hinaus, und ihr steht Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Wunderbar sind die Worte des Sufi-Heiligen Abur Hassan:

„Brüder! Dies ist das Gesetz:
Wer Gott nahe kommt,
verliert, was er hat,
ja, er verliert sich selbst,
aber er gewinnt dafür die höchste Gabe,
die Gabe der Demut.”

Der Mensch mag danach streben, demütig zu sein, aber trotz all seiner Bemühungen immer stolzer werden. Es gibt so etwas wie den Stolz der Demut; er ist sehr gefährlich, denn er ist zu subtil, als dass ihn der Unerfahrene erkennen könnte. Einige geben sich große Mühe, demütig zu sein; und gerade damit machen sie Demut unmöglich. Wie kann man demütig sein, wenn man die ganze Zeit darüber nachdenkt, wie man am besten demütig sein könnte? Auf solche Weise ist man ständig mit sich selbst beschäftigt; aber wahre Demut heißt, von aller Selbstbewusstheit frei zu sein, was in sich schließt, dass man sich der Demut nicht bewusst ist. Wer wirklich demütig ist, weiß gar nicht, dass er demütig ist.

Der wahrhaft Demütige nimmt alles hin, da es aus den Händen Gottes kommt. Er weiß, dass an ihm nichts zu loben ist. Alles Gute, das in ihm ist, kommt von Gott, und somit gilt das Lob, das die Menschen ihm spenden, Gott. Als der Jüngling Jesus ‚guter Meister’ nannte, sagte Jesus ruhig: „Warum nennst du mich gut? Keiner ist gut, außer Gott.”

„Demut”, sagt Lacordaire, „bedeutet nicht, dass wir unsere Talente und Tugenden verbergen und dass wir uns selbst für schlechter und niedriger halten, als wir sind, sondern dass wir eine klare Vorstellung von unseren Fehlern haben und uns nicht unserer Vorzüge rühmen, da wir erkennen, dass Gott uns diese aus freiem Willen gegeben hat und dass wir trotz all Seiner Gaben unendlich bedeutungslos sind.”

So nimmt der wahrhaft Demütige zuweilen das Lob, das ihm die Menschen spenden, an und gibt es still an Gott weiter, ohne etwas für sich zu behalten.

Ein Mensch, der nicht wirklich demütig ist, benimmt sich sehr unnatürlich, wenn er von anderen nicht gelobt wird. Er wird aufgeregt, verliert die Geduld und ärgert sich sogar. Er stößt die anderen ab durch seine Gereiztheit und bringt sie in eine unangenehme Lage. Manchmal unterdrückt er seine Gefühle und schweigt; aber er kann nicht vergessen, was über ihn gesagt wurde; es verfolgt ihn immer wieder und lässt ihn keine Gemütsruhe mehr finden.

Der Demütige macht kein Aufhebens. Er steht mit sich und den anderen in Harmonie. Ein wunderbares Gefühl des Friedens ist ihm eigen. Er fühlt sich sicher und wohlbehalten, gleich einem Schiff im Hafen, unberührt von den heulenden Stürmen und peitschenden Wellen. Er hat Zuflucht gefunden bei den Lotosfüßen des Herrn und die wechselnden Stürme des Lebens haben keine Macht mehr über ihn. Er fühlt sich leicht wie Luft. Die Lasten, die wir ein ganzes Leben lang mit uns tragen – die Lasten des Ego und seine Wünsche – hat er abgelegt, und er ist immer ruhig und heiter. Da er alles aufgegeben hat, gibt es für ihn nichts zu verlieren; und doch gehört ihm alles, denn er gehört Gott und Gott ist in ihm. Da er die Fesseln der Wünsche zerbrochen hat, ist er mit einem Stück trockenen Brotes ebenso zufrieden wie mit einem üppigen Mahl. In jeder Situation und Lebenslage rühmt er den Namen Gottes.

Wer demütig werden will, betrachtet sich als Schüler. Er lernt viel Neues, aber was noch schwieriger ist, er verlernt vieles, was er früher einmal gelernt hat. – Ein Gelehrter kam einmal zu einem Heiligen und sprach: „0, Seher des Verborgenen, sage mir, was ich tun soll, um ein göttliches Leben zu führen.” Und der Heilige antwortete ihm: „Geh’ hin und vergiss, was du gelernt hast, und dann komme wieder und setze dich zu mir.”

Wer den Weg der Demut gehen will, muss seiner bisherigen Lebensweise entsagen. Er muss seine bisherigen Meinungen und seinen gewohnten Lebensstandard aufgeben. Er muss das Leben von einer neuen Warte aus betrachten. Die Dinge, welche die Welt schätzt, haben für ihn keinen Wert. Seine Wertbegriffe sind ganz anders als die anderer Menschen. Üppige Speisen, schöne Häuser, kostbare Kleider, Macht und Einfluss und Anerkennung, Ehren und Würden locken ihn nicht mehr. Er fühlt sich zu einem einfachen Leben hingezogen. Er ist glücklich, ein verborgenes Leben in dem verborgenen Herrn zu führen. Er ist der Welt gestorben, aber lebendig in Gott. Zuweilen verhält er sich tatsächlich wie einer, der tot ist.

Ja, der wahrhaft Demütige ist in diesem Sinne der ‚tote’ Mensch. Er ist ‚gestorben’. Es lebt nur Gott in ihm. Sein Ich ist ausgelöscht; es ist in Gott aufgegangen und nur Gott verbleibt. Gott wirkt in ihm und durch ihn und Gott strahlt aus seinen Augen. Gott spricht aus seinen Worten; auf seinen Füßen geht Gott über die Erde, und durch seine Hände gibt Er allen Seinen Segen.

Solche Menschen sind die wahre Stärke der Welt und bringen ihr Erleuchtung und Inspiration. Sie zu sehen, heißt, Verbindung mit Gott zu erlangen, denn Gott wohnt in ihnen. Sie sind die wahrhaft lebendigen Tempel Gottes. Sie sind es, die die Welt intakt halten, obwohl sie es selbst nicht wissen. Die ganze Welt hängt von ihnen ab, aber niemand weiß etwas davon. Ihr Herz und Sinn stimmt überein mit dem großen Herzen und Sinn der Menschheit. Sie sind in vollständiger Harmonie mit allem, was da lebt. Sie geben ihre Liebe allen Lebewesen, als wären sie Söhne der gleichen liebevollen Mutter. Sie haben alle Fesseln zerbrochen und haben die Freiheit der Kinder Gottes erlangt. Gott tut ihren Willen, weil ihr Willen in den Seinen übergegangen ist. Gott erfüllt ihnen jeden Wunsch, denn Er ist es, der all ihre Wünsche wünscht. Sie sind die kleinen Erretter der Menschheit.

Ich wünsche jedem einzelnen von euch, dass er die Lektion der Demut befolgt, die aus Liebe und Einfachheit entstanden ist.

 

KIRPAL SINGH

 

 


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